Es geht um Körper und Seele
Im Reha-Zentrum Utersum auf Föhr finden Frauen nach Brustkrebs ein sehr breit gefächertes Angebot. Jede soll zumindest eine Sache mitnehmen.
Ein Kaninchen hoppelt hektisch ins Unterholz. Viel zu gefährlich hier, scheint es sich zu sagen, als eine Gruppe von Leuten mit Pfeil und Bogen die Lichtung betritt. Dabei geht es hier doch gar nicht ums Jagen, sondern um die Gesundheit. Das Schießen mit Pfeil und Bogen hilft nämlich, Kraft aufzubauen und in Arm, Schulter und Rumpf beweglich zu bleiben. Und: Man kann dabei wunderbar abschalten. Abschalten – das will auch Susanne Kaucher. Vor genau einem Jahr hat die 55-Jährige nach einem auffälligen Mammografie-Befund die Diagnose Brustkrebs erhalten. Zum Glück war es ein frühes Stadium, sodass sie nach Operation und Bestrahlung nun mit hoher Wahrscheinlichkeit geheilt ist.Trotzdem war sie nach der Behandlung extrem erschöpft. „Ich habe zwar nach vier Monaten wieder angefangen zu arbeiten, aber nach Feierabend und am Wochenende ging gar nichts mehr. Ich wollte nicht nur auf die Couch, sondern direkt ins Bett“, erzählt die Chemie-Ingenieurin und Mutter einer 19-jährigen Tochter.
>> Nach Feierabend ging gar nichts mehr. Ich wollte direkt ins Bett. <<
SUSANNE KAUCHER
Von der Idee, eine Reha zu machen, hielt sie im ersten Moment dennoch nicht viel. „Ich dachte, da sind doch nur schwer kranke Leute, was soll ich da?“ Jetzt, nach zweieinhalb Wochen im Reha-Zentrum Utersum auf Föhr, ist sie begeistert. „Das bringt einem unheimlich viel, sowohl körperlich als auch mental. Und alle sind so nett hier.“ Die Klinik liegt auf der nordfriesischen Insel Föhr direkt am Strand, umgeben von Dünen, Wind und Watt. Von ihrem Zimmer aus kann Susanne Kaucher sogar das Meer und die benachbarten Inseln Amrum und Sylt sehen. Ein starker Gegenentwurf zum stressigen Alltag.
Wann hat man schon mal die Gelegenheit zum Bogenschießen? Im Reha-Zentrum Utersum geht es genau darum: möglichst viel ausprobieren und etwas Neues finden, was einem guttut.
Eine gute Frauengemeinschaft Sich endlich mal um nichts kümmern müssen, rundum versorgt und liebevoll betreut werden – das ist für viele der Frauen hier eine neue und gute Erfahrung. Die Männer, die meist wegen Atemwegsproblemen hier sind, sind in der Klinik deutlich in der Unterzahl. Susanne Kaucher hatte Bedenken, dass es deswegen irgendwie „zickig“ zugehen könnte. Aber das Gegenteil ist der Fall: „Wir Frauen haben hier so eine gute Gemeinschaft, man erzählt sich viel und erkennt, dass jede ihr Päckchen zu tragen hat, oft ein größeres Päckchen als man selbst.“ Auch richtig gute Freundschaften hätten sich schon ergeben. „Was haben wir gelacht.“ Aber auch wenn es manchmal lustig ist: Wie einen Urlaub darf man sich so eine Reha nicht vorstellen. Dafür ist der Terminplan viel zu voll. Die erste Woche sei ganz schön heftig gewesen, erinnert sich Susanne Kaucher. Doch von den vielen Therapien und Angeboten, die zur Auswahl stehen, ist sie begeistert. Ob Line Dance, Trommelkurs oder Atemübungen in völliger Stille beim Sonnenaufgang am Strand – hier ist wirklich für jede (und jeden) etwas dabei. Für einige Therapien wird man fest eingeplant, die meisten jedoch können immer wieder neu frei gewählt werden. „Für dieses Konzept haben wir uns ganz bewusst entschieden“, erklärt Oberärztin Michaele Hirsch. „Denn die drei Wochen hier bringen nur dann etwas, wenn man irgendetwas mit nach Hause nimmt“, so die Gynäkologin. Deswegen sollen die Frauen hier so viel wie möglich ausprobieren können. Bogenschießen zum Beispiel hat bei Brustkrebs, aber auch bei Atemproblemen viele Vorteile. Der Sport hilft nicht nur körperlich, sondern fördert auch die Konzentration und Koordination, baut Stress ab, verbessert das Selbstvertrauen und tut gut, weil es eine Gruppenaktivität ist. „Viele unserer Angebote können für verschiedene Zwecke genutzt werden“, so Michaele Hirsch. Zum Beispiel hilft Balance-Training nicht nur beim Entspannen, sondern auch bei Polyneuropathie, einer Nervenschädigung, die manche Patientinnen infolge der Chemotherapie bekommen. Insgesamt gehe es bei der Reha nach Brustkrebs um Körper und Seele. Viele Frauen kämpfen mit den körperlichen Nebenwirkungen von Bestrahlung, Chemotherapie und Operation. Dazu kommt die Angst davor, dass der Krebs zurückkommt. „Das hat fast jede Patientin“, so Michaele Hirsch. Aber viele beschäftigt auch die Frage, ob sie etwas falsch gemacht haben.
>> Die drei Wochen hier bringen nur dann etwas, wenn man irgendetwas mit nach Hause nimmt. <<
MICHAELA HIRSCH, GYNÄKOLOGIN & LEITENDE OBERÄRZTIN
Krebs als "Zellunfall" Hier ist laut Michaele Hirsch Aufklärung wichtig. Sie erklärt den Patientinnen, dass Krebs letztlich ein „Zellunfall“ ist. Gesunde Ernährung und viel Bewegung helfen nachweislich, das Rückfallrisiko zu senken. Aber oft sieht sie auch, dass Frauen es damit übertreiben. Sie kaufen teure Nahrungsergänzungsmittel oder halten extreme Diäten ein, die ihnen irgendwo empfohlen wurden. Für diese Dinge gebe es aber keinen belegten Nutzen. Eine gesunde Ernährung nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) reicht aus, dies wird auch in den Brustkrebs-Leitlinien so empfohlen. Deshalb wurde im Reha-Zentrum Utersum auch die Speisenversorgung durch die DGE zertifiziert. Die Frage nach dem Warum hat Susanne Kaucher, die trotz gesunder Lebensweise Krebs bekommen hat, für sich zum Glück schnell abhaken können. Dass sie von Anfang an offen über die Krankheit geredet hat, sei auch hilfreich gewesen. In der Reha hat sie trotzdem viel gelernt, über ihre Erkrankung, den Umgang damit – und auch über sich selbst. Sie tritt durch die Dünen, der Strand tut sich vor ihr auf. „Hören Sie das? Es ist so still hier.“ Und tatsächlich: Dieser Ort ist etwas Besonderes – und definitiv ein Erlebnis für alle Sinne.
Viele Frauen haben infolge der Brustkrebs-Operation mit Lymphstaus zu kämpfen. Das Bewegungsbad ist ideal, um dem entgegenzuwirken.