Die vielleicht erste ihrer Art

Die Kinder- und Poliklinik des Universitäts­klinikums Würzburg kann als weltweit eine der ersten Einrichtungen ihrer Art in diesem Jahr auf eine 175-jährige Geschichte zurückblicken. Obgleich sie auf höchstköniglichen Erlass hin gegründet wurde, war die fachgerechte Versorgung der Kinder sowie die Eigenständigkeit der pädiatrischen Lehre immer wieder gefährdet. Welche Hürden es in all der Zeit zu überwinden galt, wie die Einrichtung gedieh und welche Bedeutung das Haus heute hat, erklärt der stellvertretende Direktor Prof. Helge Hebestreit.

Historische Urkunde des Königreichs Bayern, Ministerium des Innern, mit handschriftlichem Text zur Genehmigung der Kinderklinik in Würzburg.
Historischer Grundriss der ersten Kinderklinik des Juliusspitals Würzburg mit Patientenzimmern, Untersuchungsräumen und langen Fluren.

Die vielleicht erste ihrer Art

Die Kinder- und Poliklinik des Univer­sitätsklinikums Würzburg kann als weltweit eine der ersten Einrichtungen ihrer Art in diesem Jahr auf eine 175-jährige Geschichte zurückblicken. Obgleich sie auf höchstköniglichen Erlass hin gegründet wurde, war die fachge­rechte Versorgung der Kinder sowie die Eigenständigkeit der pädiatri­schen Lehre immer wieder gefähr­det. Welche Hürden es in all der Zeit zu überwinden galt, wie die Ein­richt­ung gedieh und welche Bedeut­ung das Haus heute hat, erklärt der stellvertretende Direktor Prof. Helge Hebestreit.

Historische Dokumente und eine alte Ansicht des Juliusspitals Würzburg zur frühen Geschichte der Kinderklinik des Universitätsklinikums Würzburg.
„Wir wissen vieles über die Geschichte der Kinderklinik, aber bei weitem nicht alles.“
Prof. Helge Hebestreit, Stellvertretender Direktor der Kinderklinik

Prof. Dr. Helge Hebestreit,

Stellvertretender Direktor der Kinderklinik

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert begleitet Prof. Helge Hebestreit die Ge­schich­te der Kinder- und Poliklinik. Neben seiner medizinischen und wissen­schaft­lichen Tätigkeit lenkt der erfahrene Kliniker seinen Blick auch auf die historische Entwicklung der universitären Einrichtung. Er ist Feuer und Flamme, wenn er im Gespräch hundert Jahre alte Lehrbücher aus seinem Schrank zieht, die er in Anti­quariaten entdeckt hat, oder vergilbte Fotografien und Baupläne ausbreitet, die er aufbewahrt und studiert.

Man kann leicht nachvollziehen, wie sehr er sich gefreut haben muss, als er beim Aufräumen eines alten Hörsaalschranks eine verstaubte Kiste entdeckte, deren Inhalt seit Jahrzehnten keinem Menschen gewahr geworden sein dürfte. In der hölzernen Zeitkapsel lagen große Glasdiapositive. „Die ältesten Aufnahmen sind mindestens 100 Jahre alt“, erklärt Hebestreit. Darauf sind unter anderem Kinder abgelichtet, die an Syphilis litten. Als Teil der Lehrsammlung des ehemaligen Klinik­direktors Prof. Hans Rietschel sind sie ein wertvolles Zeitzeugnis. „Es ist erstaunlich, dass sie die Zerstörung in der Bombennacht des 16. März 1945 über­standen haben. Wir wissen vieles über die Geschichte der Kinderklinik, aber bei weitem nicht alles“, sagt Hebestreit. „Solche Funde machen die Lehre in der Kinder­heilkunde von vor 100 Jahren wieder lebendig.“

Historisches Marienbild

Wie alles begann

Die Anfänge der Kinderklinik liegen in der ersten Hälfte des vorletzten Jahr­hun­derts. Damals wurde die medizi­ni­sche Versorgung von Kindern im Wesent­lichen durch das Juliusspital und die Stadt Würzburg geleistet. Die Universität übernahm Lehre und For­schung. Es war der Beginn eines neuen Zeitalters, das sich auch auf den Um­gang mit Kindern auswirkte: Die ersten Kinderbewahranstalten, Vorläu­fer heutiger Kindergärten, entstanden; Forschungen auf dem Feld der Pädiatrie, einer damals noch jungen medizinischen Fachdisziplin, wurden vorangetrieben. Pionier­arbeit leistete man auch in den Kliniken, so auch im Umfeld des Juliusspitals, wo man mit der Gründung der Universitäts-Kinder­klinik die vielleicht weltweit erste Ein­richtung ihrer Art schuf.

Gründung einer Kinderklinik mit königlichem Segen

Mit dem medizinischen Fortschritt konnte man nicht länger ignorieren, dass Kinder nicht einfach kleine Erwachsene sind, sondern eigene Krankheiten haben bzw. auf Krank­hei­ten anders reagieren. 1840 richtete man daher zwei kleine Räume mit 15 Betten ein, in denen man junge Patientinnen und Patienten unter­brach­te. 1847 verlegte man die „Separat­anstalt für Kinder“ in ein Gebäude in der angrenzenden Klinikstraße, in dem 30 Kinder Platz hatten. Die Verantwort­lichen mussten auf ein königliches Dekret von 1841 reagieren, worin die „Errichtung einer stabilen Kinder­klinik und die Abhaltung von eigenen Vor­lesungen über Kinderkrankheiten“ angeordnet wurde. „Eigenständig­keit erlangte die Kinderklinik unter Franz von Rinecker, der zu den wichtigsten Akteuren jener Zeit gehörte“, sagt Hebestreit. Als Leiter der Poliklinik hielt er Vorlesungen an der Universität und forschte seit Mitte der 1830er Jahre intensiv zum Thema. 1850 wurde dem zuvor zum „öffentlich-ordentlichen Professor der Kinderkrankheiten“ ernannten Arzt – neben dem Betrieb der Poliklinik – die Verantwortung für die stationäre Kinderklinik über­tra­gen, die zu einer stabilen Einheit heranwuchs. Schnell nahm die Anzahl behan­del­ter Kinder zu.

Die Einrichtung war jedoch von Beginn an in ihrer Eigenständigkeit gefährdet und so vergingen keine zwei Jahrzehnte, ehe sie nach ihrer Gründung wieder ins Juliusspital eingegliedert wurde. „Die von Rinecker erkämpfte Selbstständig­keit der Pädiatrie scheiterte an Begehr­lichkeiten bzgl. der Zuständigkeit und am Geld­mangel“, resümiert Hebestreit. Rineckers Nachfolger Prof. Carl Gerhardt interessierte sich besonders für die Kinderheilkunde. So gab er beispiels­weise 1877 das sechsbändige Handbuch der Kinderkrankheiten heraus, das sich schnell als Standard­werk etablieren sollte.

Historische Fotografie einer Gruppe von fünf Ärzten in Sepiatönen.

Von links: Der Chemiker Josef Scherer, Rudolf Virchow, der Gynäkologe Kiwisch von Rotterau, der Physiologe Albert Kölliker und Universitäts-Rektor Franz von Rinecker um 1850 in Würzburg.

Fund im Hörsaalschrank: Aufnahme des ärztlichen Teams unter der Leitung von Prof. Hans Rietschel.

Schwierige Zeiten

Als ersten Extraordinarius berief man 1915 den zuvor in Heidelberg tätigen Pädiater Jussuf Ibrahim zum Leiter der Kinderklinik. Weil Räumlichkeiten fehl­ten, mietete er auf eigene Faust eine Wohnung für Untersuchungen an, wenngleich ihm lediglich Untersuch­ungen an Kindern bis zu einem Alter von 14 Jahren gestattet waren. Insgesamt war die Situation unbefriedigend für ihn, weswegen er 1917 einem Ruf nach Jena folgte. Ibrahim ist heute umstrit­ten, denn er war im Dritten Reich nach­weis­lich aktiv am Euthanasie­programm beteiligt, das die organisierte Tötung von geistig und körperlich behinderten Säuglingen und Kleinkindern zum Ge­genstand hatte.

Ibrahims Nachfolger, Prof. Hans Rietschel, gilt heute als verdienter Leiter der Klinik, welcher er 29 Jahre lang vorstand. Er leitete das Haus währ­end der Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reichs. Zudem war er währ­end der NS-Zeit zeitweise Dekan der Medizinischen Fakultät sowie Vorsitz­ender der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde. Auch wenn er Distanz zum NS-Regime bewahrte, war er nationalkonservativem Gedankengut zugetan. Unter seinen Assistenten fanden sich überzeugte National­sozialisten.

Als immerwährende Zäsur im Gedächtnis der Stadt gilt der 16. März 1945, als Würzburg in Schutt und Asche gelegt wurde. Auch Gebäude der Kinder­klinik, die seit 1923 Teil des damals neu errichteten Staatlichen Luitpoldkrankenhauses waren, wurden zerstört. Das meiste ging unwiderruflich verloren, berichtet Hebestreit: „Darunter auch eine Madonnenfigur, die Besuchern im Treppenhaus Segen spendete und deren Aussehen uns heute nur noch aufgrund einer Foto­grafie auf einer Postkarte bekannt ist.“

Prof. Hans Rietschel (1878 – 1970) bei der Untersuchung eines Säuglings, flankiert von Studenten.

Historische Szene aus der Kinderklinik Würzburg: Ein Arzt untersucht ein Baby, umgeben von Studenten und einer Krankenschwester.

Prof. Hans Rietschel (1878 – 1970) bei der Untersuchung eines Säuglings, flankiert von Studenten.

Gestiegene Attraktivität

Unter dem ersten Direktor der Nach­kriegszeit, Prof. Josef Ströder, kristalli­sierten sich spezielle Arbeitsgruppen für alle Sparten der Kinderheilkunde heraus. Auf seine Initiative ist die Einrichtung einer ersten Schule für kranke Kinder an einer Universitäts­kinderklinik zurückzuführen. Er begleitete zudem maßgeblich den Wiederaufbau und die Erweiterung der Klinik in baulicher und personaler Hinsicht. So entstanden u. a. das heutige Haupt­gebäude der Klinik, Haus D31, mit einem großen Hörsaal. Aus den psychosomatischen Bereichen der Kinderklinik entstand die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Bauherren nutzten die Möglichkeiten und sorgten mit zusätzlichen Ideen für eine gestiegene Attraktivität der Einrichtung.

Ströders Nachfolger, Prof. Helmut Barthels, übernahm 1981 die Leitung. Er führte den Klinikbetrieb in moderne Zeiten und arbeitete einer übermäßigen Zerglieder­ung in selbst­ständige Teil­be­reiche entgegen, während er gleichzeitig eine ganze Reihe not­wendiger Baumaß­nahmen erfolgreich erkämpfte, auch gegen große Widerstände. So konnte er eine moderne Kinderintensivstation einrichten – auch heute noch die einzige in Unterfranken – und ermöglichte die Mitaufnahme von Eltern. Ihm folgte Prof. Christian Speer, der neben einer hochqualitativen Pädiatrie den Fokus auf die Schwerpunkt­bildung einzelner Spezial­bereiche in Wissenschaft und Klinik legte. Ihm sind u. a. der Ausbau der neonatolo­gischen Versorgung und die Etablierung der Stammzell­trans­plan­tation als Behandlungsoption bei Blut­zell­erkrankungen, nicht nur bei Kindern, zu verdanken. Unter ihm erlangte die Kinder­klinik höchstes An­sehen, unter anderem mit der Ausricht­ung international renommierter Symposien.

Außenansicht der modernen Fassade des Stammzelltransplantationszentrums der Universitäts-Kinderklinik Würzburg

Kinderonkologie und Stammzell­trans­plan­tation: mit führend in Deutschland.

Fassade des Altbaus der Universitäts-Kinderklinik

Auch das ehemalige Infektionshaus beherbergt heute moderne und kindge­rechte Räume.

Neue Impulse

Heute, 175 Jahre nach ihrer Gründung, ist die Kinder- und Poliklinik des Universitäts­klinikums Würzburg eine feste Größe auf der Weltkarte der verdientesten und erfolg­reichsten Häuser ihrer Art. Prof. Christoph Härtel, der die Klinik seit 2020 leitet, will das breite therapeutische und wissen­schaft­­liche Spektrum der Klinik, die heute unter anderem 17 Spezial­ambu­lan­zen beherbergt, fortführen und neue Impulse setzen. Dem Ruf nach Würzburg folgte er bereitwillig. „Die Kinderklinik ist sehr gut strukturiert. Sie bietet exzellente medizinische Leistungen, die neben der ärztlichen Kompetenz und der tech­nischen Ausstattung nicht zuletzt auch auf einer personell hervorragend aufgestellten Pflege beruhen.“

Auch im 175. Jahr ihres Bestehens beweist die Würzburger Kinderklinik die schon von König Ludwig I. bezeugte Wichtigkeit ihrer Existenz durch ihre hervorragende Arbeit und ist sowohl aus der regionalen als auch über­regio­nalen Klinik- und Wissenschaftsland­schaft nicht mehr wegzudenken.

Zur Homepage der Kinderklinik
„Die Kinderklinik ist sehr gut strukturiert. Sie bietet exzellente medizinische Leistungen, die neben der ärztlichen Kompetenz und der technischen Aus­stattung nicht zuletzt auch auf einer personell hervor­ragend auf­gestellten Pflege beruhen.“
Porträt von Prof. Christoph Härtel

Prof. Dr. Christoph Härtel

Direktor der Kinderklinik

Medizinisches Team der Kinderklinik des Uniklinikums Würzburg bei der gemeinsamen Visitenplanung auf dem Flur.

Teamarbeit seit 175 Jahren.

Lächelndes Mädchen mit Pflaster am Arm im Gespräch mit einer Ärztin in der Kinderklinik.

Oberstes Ziel: gesunde und glückliche Kinder.

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